Egon Tschirch im Rostocker Atelier, 1929
Egon Tschirch im Rostocker Atelier, 1929

 

Im Herbst 1978 erschien das Buch „Aus großer Zeit“ von Walter Kempowski, angelegt als Band eins seiner deutschen Chronik. Die auf weite Strecken autobiografische Familiengeschichte konnte Kempowski hier aber nicht wie bei den Bänden „Tadellöser & Wolff“ und „Uns geht’s ja noch gold“ aus eigenem Erleben gestalten, denn „Aus großer Zeit“ spielt von 1900 bis 1918 und stellt das Leben seiner Großeltern in den Mittelpunkt. Kempowski montierte Erinnerungsschnipsel realer Personen in das Erzählte, verwendete historische Belege aus Archiven, Tonaufnahmen mit Erinnerungen seiner Verwandten und andere Dokumente jener Zeit für den Roman.

Diese auf dokumentarisches Material zurückgreifende Erzählweise veranlasste den Autor Harald Wieser in einem Beitrag für den „Stern“, Kempowski des Plagiats zu bezichtigen. Er begründete den Vorwurf damit, dass im Roman „Aus großer Zeit“ Textpassagen aus Werner Tschirchs „Rostocker Leben im Rückblick auf 1900“ wiederzufinden sind.

Kempowski hatte nicht nur die Erinnerungen Werner Tschirchs (er war der jüngste Bruder des Malers und Grafikers Egon Tschirch) verwendet, sondern auch auf andere Quellen zurückgegriffen, was er stets – auch öffentlich in Hochschulvorlesungen – als sein Arbeitsprinzip vertrat. (Im Übrigen eine literarische Technik, die auch Alfred Döblin und Thomas Mann häufig anwandten.) Das Heft von Werner Tschirch erschien 1964 zunächst im Selbstverlag, 1968 im J. M. Beck Verlag. Auf dem Titel der letztgenannten Ausgabe sieht man eine Federzeichnung in Rot von Egon Tschirch. Es zeigt die Kröpeliner Straße im Rückblick auf 1900 in Rostock. Eine der vermutlich ersten Rostocker Straßenbahnen steht in direkter Nachbarschaft zu einem Pferdefuhrwerk auf der Straße. Und im Hintergrund ist das Kröpeliner Tor zu erkennen.