Marie Luise Kaschnitz in Rom, 1955
Marie Luise Kaschnitz in Rom, 1955

 

Ich hätte Fontane nennen sollen, so Koeppen weiter in „Ein Bruder der Massen war er nicht“.

Aber auch dieser ehrenvolle Vergleich hätte dem jungen Dichter nicht gefallen. Aber so ganz Unrecht hatte Koeppen nicht, mit dem was er schrieb, denn Johnson nutzte den Stoff von „Effi Briest“ als Vorlage seiner ‚Skizze eines Verunglückten‘. Der unglückliche Ausgang der Figur Joe Hinterhand in Johnsons Text hat unter anderem mit der Einsicht der Figur des Wüllersdorf in Fontanes Roman zu tun. Wüllersdorf äußert sich im Siebenundzwanzigsten Kapitel gegenüber dem Baron von Innstetten: […]  Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz über empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über getanes Leid. Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie‘s durchaus tun? Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, dass einer weg muss, er oder Sie? Steht es so?

Nun ist aber der Baron nicht so tatenlos, wie es Johnson und sein Protagonist waren. Denn der jüdische Joe Hinterhand, der aus Deutschland nach Amerika geflohene, tötet seine – in Johnsons Text namenlose – Frau. Sie hatte mit einem ‚Verfechter faschistischer Theorien‘ über mehrere Jahre ein Verhältnis. Dieser Betrug treibt ihn zur Tat. Er sieht keine andere Möglichkeit. Diese Vorstellung des Protagonisten wird inspiriert von ‚Eidshelfern‘.

Dabei handelt es sich um zumeist männliche, kanonisierte Schriftsteller und Philosophen der Weltliteratur von Platon bis Bloch. In diesem Zusammenhang erschließt sich der Beruf des Protagonisten: Er ist Schriftsteller. In den Text der Skizze werden entsprechende, wohl ausgewählte Zitate der Eidshelfer integriert. Die hierbei entstehende Collage bildet letztlich das Verständnis von Liebe und Ehe des Joe Hinterhand ab.

Diese Collage offenbart sich aber rasch als narzisstisch und patriarchalisch. So beispielsweise, wenn als einzige Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz zitiert wird: ‚Ein Schriftsteller ist meistens ziemlich einsam und seine Frau ist für ihn die Verbindung mit der Welt.‘ Dass das Zitat von Kaschnitz einem größeren Zusammenhang entnommen ist, wird nicht erwähnt, die Konsequenz zieht nur der:die wissende Leser:in.

Uwe Johnsons ‚Skizze eines Verunglückten‘ erschien erstmals 1981 in der Festschrift „Begegnungen. Max Frisch zum 70. Geburtstags“. Man kann diesen 76 Seiten langen Text der mit intertextuellen Strukturen collage-artig arbeitet aus zwei verschiedenen Perspektiven lesen. Einmal aus der Ästhetischen: In der Revue bietet Uwe Johnsons Skizze eines Verunglückten die mögliche Lesart eines verunglückten Protagonisten an. Dabei flechtet er Intertexte aus der Weltliteratur in die artifizielle Textstruktur der Skizze ein. Fontane nimmt dabei eine herausgehobene Stellung ein, da Johnson aus dessen Oeuvre zwei Werke zitiert (sonst nur noch bei Max Frisch). Überdies entlarvt sich an einem dieser Zitate reflexiv der Protagonist und somit auch die eine mögliche Lesart des Lebens, die der Johnsonsche Text dem:der Leser:in offeriert.

Aber auch aus der biografischen Sicht. Dabei spielt bei der biografischen Sicht der deutsche Schriftsteller Thomas Brasch eine wesentliche Rolle.

Beide trafen sich auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1982 und gleich kam es zum Streit zwischen ihnen. Dabei ging es um den vierten Band von Johnsons Jahrestage. Brasch wollte helfen und empfahl Johnson auf Ausformulierungen zu verzichten und einfach das gesamte recherchierte Material zu veröffentlichen um die offensichtliche Schreibblockade zu überwinden. Doch es ging überhaupt nicht um einen üblichen „writer‘s block“. Vielmehr lag die Wahrheit bei Johnson viel tiefer: eine für Außenstehende kaum zu durchschauende Mischung aus Wahn und Wirklichkeit. Johnson empfand sich von seiner Frau über Jahre hinweg betrogen mit einem tschechischen Geheimdienstoffizier und sah dadurch das gesamte Projekt seiner Jahrestage diskreditiert. In der ‚Skizze eines Verunglückten‘ hat Johnson 1981 seine Imagination dieser Geschichte erzählt, um achtundzwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt als Geschichte des J[oe] Hinterhand, der seine Frau tötete, weil sie ihn betrogen und sein Gefühl für Anstand und Recht verwundet hatte. Die Aussage Braschs empfand Johnson zwar als zutreffend, aber auch als oberlehrerhaft […] und fragte ihn wütend, ob er, Brasch, ihm den Abschluß der Jahrestage nicht zutraue. Nach diesem Treffen entstand also Braschs Gedicht „Halb Schlaf“.

Und die Parallelen zu Johnsons ‚Skizze eines Verunglückten‘ sind augenscheinlich erkennbar. Die Grundstimmung: Denn im Moment der Erkenntnis, daß man ihm ein richtiges Leben vorgespielt habe inmitten eines falschen, sei ein Bewußtsein angehalten worden, arrestiert, versiegelt, bloß noch ein Behältnis, in dem starr Vergangenheit verwaltet werde. Ganz in sich eingeschlossen, in sich selbst verrannt und verhängt, sperrt sich das Bewußtsein gegen neue Eingänge, also Erkenntnisse, bleibt süchtig im Zustand einer Folter zu verharren („Skizze“) – was spiegeln Wörter wie die dunklen Gänge, das Finster, das Schädelhaus, das Grinsen, die Gespenster, das Zittern denn anderes als innerlichste Angst, das Psychogramm des Gequälten? Im Gedicht wird es, so wie der Wächter es wahrnahm, aufgenommen, das Zittern im Lachen, der Schrecken gebannt in der Poesie, eingeschlossen in Vers und bindenden Reim: und endgültig zur Ruhe gebracht.

Nachdem man Uwe Johnson tot in seinem Haus in Sheerness-on-Sea gefunden hatte, hing das Gedicht von Thomas Brasch gerahmt im Arbeitszimmer über dem Schreibtisch an der Wand. Und: Es ist aber wahrscheinlich, daß Thomas Brasch, der – wie Johnson – unerbittliche Freund und selbst für die Welt Verlorene, dieser heftig Liebende und unendlich Einsame, dieser ‚in die eigenen Stränge verhängte‘ Mensch zitternd und lachend, weinend und grinsend dies alles auch zu sich selbst in seinem Schädelhaus hat rufen hören.